Turmgeschichte - Molkekur mit Aussicht
Häuser mit Türmchen faszinieren, sie wirken märchenhaft und regen unsere Phantasie an. Wer wohl darin wohnt? Und wie zeigt sich die Welt von dort oben?
Die Turmwächterin Sandra Mösli aus Gais lüftet das Geheimnis und gewährt einen Einblick in ihr verwunschenes Reich.
Ein Wirtshausschild sucht man vergeblich. Aber auch so wissen die Gaiser genau, welches Haus mit dem «Ochsen» gemeint ist. Nämlich jenes an der Nordostecke des Dorfplatzes. Seit über zweihundert Jahren steht das Gebäude mit dem barocken Haubenturm hier und hat viele noble Gäste aus nah und fern kommen und gehen sehen. Damals, als Gais ein international bekannter Molkenkurort war und im «Ochsen» eben solche Kuren angeboten wurden, Speis und Trank inklusive. Entsprechend ranken sich um das Haus viele Geschichten. Einige sind schriftlich festgehalten, andere wiederum werden von Generation zu Generation mündlich überliefert. So auch jene, dass Hortense Eugénie Cécile de Beauharnais, Königin von Holland und Stieftochter von Napoleon Bonaparte, regelmässig zum Molke trinken in den «Ochsen» kam.
Wie alle Gebäude rund um den Dorfplatz wurde auch das Kurhaus Ochsen kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert gebaut. Grund war der Gaiser Dorfbrand von 1780, dem insgesamt 70 Firste zum Opfer fielen. Obwohl der Wiederaufbau der Häuser dem alten Grundriss folgte, veränderte der neue Stil mit den klassizistisch geprägten Walmdachhäusern den Dorfcharakter, und der Platz erhielt ein einheitliches Gepräge. Der «Ochsen» steht dominant in der Ecke und sein Haubenturm zieht den Blick auf sich. Was sich wohl im Zimmer unter der Kuppel verbirgt?
Sandra Mösli weiss es. Seit 14 Jahren wohnt sie hier, allerdings nicht in der Turmwohnung, sondern ein Stockwerk tiefer. Hier fühlt sie sich wohl. «Ich liebe die alten Riemenböden, das Chööschtli und den Kochherd. Eine moderne Wohnung würde nicht zu mir passen», sagt sie. Der «Ochsen» ist für Sandra Mösli aber nicht nur Zuhause, er ist Teil ihrer Familie. Martin Mösli, ihr Vater, hat das geschichtsträchtige Haus 1989 gekauft. Wie kam es dazu? Die Tochter erzählt: «Meinem Vater hat das Haus schon immer gefallen. So kam es in einem Gespräch zu später Stunde zum Handel mit dem damaligen Besitzer, der, wohl aus Angst vor den grossen Sanierungsarbeiten, dem Verkauf gerne zustimmte.» Das Haus wurde dann, in Absprache mit der Denkmalpflege, Schritt um Schritt einer umfassenden Sanierung unterzogen. Die Bedürfnisse von Denkmalpflege und Hauseigentümer auf einen Nenner zu bringen, sei nicht immer leicht gewesen, fügt Sandra Mösli an.
Heute ist der «Ochsen» Wohn- und Geschäftshaus. Im Erdgeschoss ist das Fleischspezialitätengeschäft Breitenmoser eingemietet und auf den vier Stockwerken darüber gibt es acht Wohnungen. Die oberste zieht sich als Maisonette mit 2 ½-Zimmern vom Dachstock ins Turmzimmer. Wie die meisten Wohnungen im Haus wurde auch diese vor 30 Jahren saniert. Die Wände des achteckigen Turmzimmers sind schräg getäfert und der Boden mit Parkett belegt.
An der Decke sind die Stützbalken des Turms sichtbar. Vier Fenster bringen Licht in den Raum und lassen über die Dächer blicken: im Süden auf den Alpstein und im Norden zum Oberdorf. Der Turm der Gaiser Kirche ragt obenaus, die Uhr befindet sich auf Augenhöhe. Ob sich vor zweihundert Jahren auch Hortense Eugénie Cécile de Beauharnais an diesem Rundumblick erfreute und den Stundenschlag der Kirchenuhr mitzählte? Wer weiss…
Zurück in ihrer Wohnung holt Sandra Mösli Teller, Tassen, Kaffeekanne, Milchkrug und Zuckerdose aus dem Geschirrschrank. Feines, weisses Porzellan mit Goldstreifen, schwarzen Henkeln und zartem Blumenmuster. Es ist ein Geschenk ihrer Grossmutter, die es wiederum von einer alten Frau erhalten hat. «Es soll sich um das Geschirr handeln, das einst im Kurhaus Ochsen auf den Tisch kam. Und laut Recherchen meines Onkels wurde es in einer Porzellanmanufaktur in Thüringen oder Böhmen hergestellt», sagt sie. So kommen bei Sandra Mösli Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des «Ochsens» zusammen.
Dieser Artikel erschien im Appenzeller Magazin. Reinschnuppern lohnt sich!